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Daten und Fakten

3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung


Stellungnahme vom 28. Mai 2008 zum Entwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales

Vorbemerkung

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den Entwurf des 3. Armuts- und Reichtumsberichts vorgelegt. Basierend auf dem Anspruch, dass ökonomische und soziale Teilhabe- und Verwirklichungschancen allen Mitgliedern der Gesellschaft zur Verfügung stehen sollten, ermittelt der vorliegende Bericht Ungleichheiten in Form unterschiedlicher Teilhabeergebnisse, aber auch ungleiche Zugangsmöglichkeiten. Der Armuts- und Reichtumsbericht soll das Bewusstsein für die Notwendigkeit des sozialen Zusammenhaltes vertiefen und damit eine konzertierte Politik der Armutsbekämpfung fördern. Der Verband alleinerziehender Mütter und Väter unterstützt diese Zielsetzung und nimmt daher zum vorliegenden Entwurf Stellung.

Der Bericht gliedert sich in vier Teile: Kurzfassung (A), Einleitung (B), Entwicklungen und Herausforderungen (C) und Maßnahmen der Bundesregierung (D). Die Teile C und D entsprechen damit den Teilen A und B des zweiten Armuts- und Reichtumsberichts. An den dritten Bericht zu den Lebenslagen in Deutschland kann der Anspruch herangetragen werden, durch den Vergleich mit den vorhergehenden Veröffentlichungen eine Bilanz der Sozialpolitik zu ziehen. Zudem werden erstmals die Auswirkungen der Schaffung des SGB II und damit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe dargestellt.

Für die fortlaufende Berichterstattung wäre jedoch eine einheitliche und fortlaufende Datengrundlage sehr wünschenswert gewesen. Der Bericht lässt zwar an einzelnen Stellen den Zehn-Jahres-Vergleich zu. Die Kernvariable zur Messung sozialstaatlichen Handelns, die Armutsquote, wird jedoch im vorliegenden Bericht auf einer anderen Datengrundlage ermittelt als im vorhergehenden Bericht. Eine Vergleichbarkeit und damit die Messung sozialpolitischen Erfolges sind dadurch unmöglich. Die auf Basis des EU-SILC ermittelte Armutsrisikoquote von 13 Prozent legt eine positive Entwicklung nahe. Die vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung auf Basis des sozioökonomischen Panels (SOEP) veröffentlichte Armutsquote von 18 Prozent deutet jedoch auf eine negative Bilanz hin.

Übergreifend lässt sich zudem feststellen, dass sich der Bericht im Vergleich zu anderen Berichten (wie etwa dem siebten Familienbericht) durch ein kaum vorhandenes Innovationspotenzial und die weitgehende Abwesenheit von selbstkritischen Ansätzen auszeichnet. Die vorliegenden Daten beinhalten das Potenzial, selbstkritisch und lösungsorientiert dem drängenden und wachsenden Problem sozialer Ungleichheit in Deutschland zu begegnen, das jedoch ungenutzt bleibt.

Der VAMV verweist auf seine Stellungnahme zum zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Die darin geäußerte Kritik am Begriff des "Armutsrisikos" als die Situation von Armut verharmlosend kann hier wiederholt werden. Auch die Kritik an der Fassung von Armut als ein individuelles Schicksal und der Verweis auf "Bewältigungskompetenzen" ist einem funktionierenden Sozialstaat unangemessen. Zudem wiederholt der VAMV die ebenfalls in der Stellungnahme zum zweiten Armuts- und Reichtumsbericht angemerkte Tatsache, dass Analyse- und Maßnahmenteil vermischt werden, indem der Analyseteil vielfach Maßnahmen bereits als sozialpolitische Erfolge darstellt.

Die Kritik am dritten Armuts- und Reichtumsbericht muss jedoch noch um einen weiteren Aspekt ergänzt werden: Im gesamten Bericht fehlt der Zugang zu Armut als strukturelles Problem. Die Benachteiligungsachsen Geschlecht, Migrationsgeschichte und Familienform werden zwar benannt, Zusammenhänge mit politischen Maßnahmen werden jedoch nur rudimentär berücksichtigt. Eine "konzertierte" Politik der Armutsbekämpfung sollte auf eine ebenso strukturell zusammenhängende Analyse aufbauen.

Der VAMV bemängelt ausdrücklich, dass die überdurchschnittlichen Anteile der Einelternfamilien in Armut sowohl im Hinblick auf die Darstellung von Ursachen als auch auf die vorgeschlagenen Maßnahmen eine unangemessen geringe Berücksichtigung finden.

Zum Bericht im Einzelnen

Aufgrund des engen Zeitfensters zur Stellungnahme konzentrieren sich folgenden Abschnitte auf die Kapitel, die für Alleinerziehende besonders relevant sind.

B: Einleitung

Der VAMV unterstützt die Konzeption des Berichts dahingehend, dass ein mehrdimensionaler Zugang zu Armut gewählt wird und zudem der Aspekt der gesellschaftlichen Teilhabe im Vordergrund steht. Auch die Priorität auf der Überwindung materieller Armut findet die Zustimmung des VAMV. Als Mitglied im Beraterkreis zum Armuts- und Reichtumsbericht muss der VAMV jedoch ausdrücklich feststellen, dass die Einbindung der Akteure in die Berichterstattung äußerst mangelhaft war.

C: Entwicklungen und Herausforderungen

I. Gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Entwicklungen

Der VAMV kann die optimistisch beschriebene Trendwende am Arbeitsmarkt, die, so der Bericht, "alle Personengruppen" in Form sinkender Arbeitslosigkeit erreiche, nicht erkennen. Auch die Priorität auf die Haushaltskonsolidierung muss angesichts der Armutszahlen dringend überdacht werden. Der Wandel von Wirtschaft und Beschäftigung wird im Bericht wie ein unentrinnbares Schicksal, das sich politischer Regelung entzieht, dargestellt. Dieser Auffassung kann der VAMV nicht folgen. Der "Wandel der Form der Arbeitsverhältnisse" hin zu ungesicherten, befristeten, geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die noch dazu keine angemessene Entlohnung bieten, scheint die Kehrseite der "Trendwende" am Arbeitsmarkt zu sein.

Der VAMV stimmt der Bundesregierung in ihrer Bewertung von Bildung als Schlüssel zu Teilhabechancen zu.

II. Einkommen und Vermögen, Mindestsicherung und Überschuldung

Die Zunahme der Ungleichheit der Bruttolöhne und die Ausweitung des Niedriglohnbereiches bewertet der VAMV als dramatisches Signal, dass Arbeitnehmer/innen zunehmend dem freien Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte überlassen werden. Dies ist nach Auffassung des VAMV dem zunehmenden Druck geschuldet, der auf Arbeitssuchende im SGB II ausgeübt wird. Die Zunahme der Teilzeitbeschäftigung von Frauen ist zu hohen Anteilen einer schlechteren Position von Frauen und insbesondere Müttern auf dem Arbeitsmarkt geschuldet. Dass diese Beschäftigung zu geringerer Entlohnung führt, ist die Folge einer mangelhaften Arbeitsmarkt- und Gleichstellungspolitik. Die Umverteilung über das Steuersystem ist nicht nur wegen zu geringer Grundfreibeträge und der Reduzierung des Spitzensteuersatzes als ungerecht zu bewerten. Insbesondere Alleinerziehende erhalten keine dem Ehegattensplitting entsprechende Begünstigung und werden dadurch massiv benachteiligt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer hat zudem zu einer unverhältnismäßigen Mehrbelastung von Haushalten mit geringem Einkommen geführt.

Die zunehmende Ungleichheit der Haushaltseinkommen spiegelt eine Sozialpolitik wider, die atypische Beschäftigung und Beschäftigung zu Niedriglöhnen gefördert hat. Die Förderung von Gründungen durch die so genannten "Ich-AGs" haben zu einer Aushöhlung der Sozialversicherung geführt, da diese, zu hohen Anteilen zuvor abhängig Beschäftigten, durch die Gründungen nicht mehr Beitragszahler/innen der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung sind.

Die Herabsetzung der Armutsrisikogrenze durch den Wechsel auf das EU-SILC als Datenquelle auf 781 Euro und damit die Verringerung der Armutsquote (auf 13 Prozent) muss als Verschleierung bezeichnet werden. Das EU-SILC schließt bestimmte armutsgefährdete Bevölkerungsgruppen (z.B. Menschen mit Migrationsgeschichte) systematisch aus, da die Fragebögen nur in deutscher Sprache verschickt werden. Zudem wird selbst genutztes Wohneigentum nicht als Einkommen bewertet. Der VAMV kann diese Fehldarstellung nicht unterstützen und fordert eine adäquate Darstellung der Armutsquote anhand des SOEP (18 Prozent). Dies bietet zum einen die Vergleichbarkeit mit dem zweiten Armuts- und Reichtumsbericht. Zum anderen ist es für eine wirksame Sozialpolitik zwingend notwendig, ein realistisches Bild der sozialen Lage in Deutschland zu zeichnen.

Der Vergleich der deutschen Armutsrisikoschwelle von 781 Euro mit wirtschaftlich nicht vergleichbaren Staaten wie Litauen und Lettland grenzt an Zynismus. Der VAMV hält diese Information für überflüssig und rät einen Vergleich mit wirtschaftlich erfolgreicheren Staaten an.

Das dramatische und im Vergleich zum Durchschnitt (13 Prozent) fast doppelt so hohe Armutsniveau bei Alleinerziehenden (24 Prozent) zeigt angesichts des gewählten Datensatzes nicht nur, dass die Armutsquote bei Alleinerziehenden real wesentlich höher ist (etwa 40 Prozent gemäß der Angaben des Bundesfamilienministeriums), sondern es zeigt die dringende Notwendigkeit auf, im Bezug auf Alleinerziehende armutsbekämpfende Maßnahmen zu ergreifen. Die Situation der Alleinerziehenden ist seit dem letzten Bericht bekannt. Der VAMV kann im vorliegenden Bericht keine Maßnahmen erkennen, die zu einer wesentlichen Verbesserung geführt hätten.

Der VAMV kann die im Bericht vorgenommene positive Bewertung der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) nicht teilen. Insbesondere die gegenseitige Unterstützung der Partner/innen hat für viele Frauen zu einer massiven Benachteiligung geführt. Schätzungen zufolge haben zum 1. Januar 2005 200.000 Frauen ihre Ansprüche auf Arbeitslosenhilfe ersatzlos verloren, weil sie mit einem Partner zusammenlebten. Die Bemessung der Regelsätze erreicht weder für Erwachsene noch für Kinder die Armutsrisikogrenze. Das System der Mindestsicherung kann daher nicht als Armut vermeidendes Instrument bewertet werden.

Es ist zu begrüßen, dass das Kapitel Überschuldung aufgenommen wurde. Die Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die Schuldensituation und insbesondere das Problem ausbleibender Unterhaltszahlungen / Unterhaltsschulden bleiben in diesem Kapitel jedoch unterbelichtet. Der VAMV schlägt eine Nachbesserung um diese Daten vor.

III. Bildungschancen

Der VAMV bewertet die Zunahme so genannter "früher Schulabgänger" und Schulabbrecher in den ostdeutschen Bundesländern als dramatisch. Auch die Tatsache, dass Frauen zu deutlich höheren Anteilen ohne beruflichen Abschluss oder Hochschulabschluss ihre Bildungslaufbahn beenden, sollte zur Ergreifung nachhaltiger Bildungsmaßnahmen führen.

Der VAMV möchte wissen, ob die erhöhten Anteile junger Frauen ohne Berufsabschluss mit einer frühen Familiengründung zusammenhängen. Hier sollte die Situation junger Mütter in den Blick genommen werden. Erneut fehlt im Bericht der Zugang zu struktureller Benachteiligung.

Die Selektivität des Schul- und Hochschulwesens bleibt im Bericht unterbelichtet und wird zu wenig kritisch bewertet. Eine "Lockerung des Zusammenhangs" von sozialer Herkunft und Schulerfolgen sollte nicht zu einer Lockerung der Anstrengungen führen, die soziale Selektivität abzubauen. Es steht zu befürchten, dass durch die Einführung der Studiengebühren die Selbstselektion junger Menschen aus einkommensschwachen Haushalten zunehmen wird. Der VAMV vermisst, dass die Bundesregierung zu diesem Aspekt nicht Stellung genommen hat.

IV. Erwerbstätigkeit

Die optimistische Bewertung der Entwicklung der Erwerbstätigkeit kann der VAMV aus der Sicht der Alleinerziehenden nicht teilen. Die Erhöhung der Erwerbstätigenquoten auf Basis gering entlohnter und unsicherer Beschäftigung sowie Teilzeiterwerbstätigkeit für Frauen und Selbstständigkeit ist aus Sicht des VAMV kein arbeitsmarktpolitischer Erfolg. Erwerbstätigkeit sollte nicht zum Selbstzweck werden, sondern immer auch der Existenzsicherung und der Tragfähigkeit der Sozialversicherung dienen. Der VAMV muss die Eindimensionalität, mit der Erwerbstätigkeit hier betrachtet wird, ausdrücklich bemängeln. Auch hat die Zahl sozialversicherungspflichtig Beschäftigter im Zehnjahresvergleich abgenommen. Die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und insbesondere die erweiterten Möglichkeiten bei den "Mini-Jobs" haben die Ausweitung des Niedriglohnbereiches gefördert. Die Sorge der Bundesregierung angesichts dieser Entwicklung ist berechtigt.

Der VAMV kann die Auffassung "der konjunkturelle Aufschwung" erfasse "alle Personengruppen" angesichts der vorliegenden Daten nicht unterstützen. Die Armutsquote bei Alleinerziehenden hat nicht abgenommen. Im Rückgang der Arbeitslosigkeit ist zum einen nicht verzeichnet, ob die Abgänge in Beschäftigung erfolgten. Eine Zunahme der Sanktionen, die Umkehr der Beweislast bei Annahme einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft und vor allem der Rückgang der Arbeitslosigkeit bei Bezieher/innen von Leistungen nach dem SGB III haben sicherlich ihren Anteil beigetragen.

Die Armutsrisikoquote bei Arbeitslosen von 43 Prozent ist den zu gering bemessenen Regelsätzen geschuldet. Auch die im Bericht angegebenen Leistungskürzungen tragen zu diesem Risiko bei. Dies sind Auswirkungen politischer Maßnahmen, die durch entsprechendes politisches Handeln verändert werden können.

Besonderes Interesse des VAMV findet die Annahme, 663.000 Alleinerziehende im Bezug von Leistungen nach dem SGB II seien "häuslich gebunden" (S. 79). Dies im Zusammenhang damit, welche Gründe der "Aktivierung" der Leistungsbezieher/innen entgegenstünden, ruft mehr als ein Stirnrunzeln hervor. Der VAMV bittet um Stellungnahme zu diesem Abschnitt. Die Formulierung erweckt den Eindruck, alleinerziehende Bezieher/innen von Leistungen nach dem SGB II würden keine Leistungen der Eingliederung, Fort- und Weiterbildung oder Vermittlung erhalten. Zudem ist der Begriff "häuslich gebunden" höchst missverständlich und erinnert an die rückschrittliche Idee, dass Mütter mit Kindern nicht erwerbstätig sein könnten.

V. Familie und Kinder

Alleinerziehende sind im Vergleich zu anderen Familien und anderen Bevölkerungsgruppen überdurchschnittlich häufig arm. Der VAMV bewertet die Darstellung zu den Ursachen und Auswirkungen von Armut in Familien als verkürzt und individualisiert. "Wird im Falle von Arbeitslosigkeit, Trennung oder Scheidung keine neue familiäre Stabilität gefunden" (S. 85) legt es nahe, dass die Armut bei Alleinerziehenden ein individuelles Schicksal sei, deren "Stabilität" sie selbst finden müssten. Diese Perspektive lässt außer Acht, dass Alleinerziehende in erster Linie von Rahmenbedingungen wie ausreichendem und regelmäßigem Kindesunterhalt, Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung abhängig sind.

Es ist eine Verharmlosung von Kinderarmut, wenn diese durch das Niveau der Grundsicherung als bekämpft gilt. Die inakzeptable Darstellung, die Kinderarmut würde durch Transferleistungen um zwei Drittel reduziert, beruht zum einen auf der zuvor bereits kritisierten Datenquelle, zum anderen verfälscht sie die Situation. Unter den Bezieher/innen des Kinderzuschlages sind nach Aussage der Bundesregierung nur 7 Prozent allein erziehend. Der Kinderzuschlag kann für Alleinerziehende daher nicht als armutsvermeidend, geschweige denn als erfolgreich dargestellt werden. Wenn auch nachvollziehbar erscheint, dass die Bundesregierung sich Erfolge in der Armutsbekämpfung wünscht, ist in einem Bericht doch die korrekte Darstellung zu erwarten.

Insgesamt vermisst der VAMV sowohl in Bezug auf Alleinerziehende als auch auf die Erwerbstätigkeit in Familien einen geschlechtersensiblen Blick. Die so genannte "Abkehr" (S. 91) vom Arbeitsmarkt, die sich für Alleinerziehende als Armutsrisiko erweist, ist nur selten frei gewählt, sondern Ergebnis eines Verhandlungs- und Abstimmungsprozesses, der vor dem Hintergrund unzureichender Kinderbetreuung und geschlechterungerechter Arbeits- und Einkommensverhältnisse zum Nachteil von Frauen gereicht. Dass nur 10 Prozent der Schüler/innen in Grundschulen ein Ganztagesangebot nutzen können spricht für sich. Dieser krasse Gegensatz zur Erwartungshaltung, dass Vollzeiterwerbstätigkeit vor Armut schützt, wird weder benannt noch nachhaltig bearbeitet.

Der VAMV vermisst Aussagen zur Dauer der Armutsbetroffenheit, insbesondere bei Alleinerziehenden. Nach dem aktuellen UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland ist das Risiko dauerhafter Armut für Kinder von Alleinerziehenden doppelt so hoch wie für Kinder in Paarhaushalten.

Abschließend lässt sich zu diesem Abschnitt festhalten, dass den überproportionalen Anteilen Alleinerziehender in Armut kein einziges wirksames Konzept der Armutsbekämpfung gegenüber steht. Gleiches findet sich auch nicht im Abschnitt zu den Maßnahmen.

VI. Gesundheit

Ein monetäres Armutsrisiko halbiert die Chance auf einen guten oder sehr guten Gesundheitszustand (S. 99). Arbeitslose leiden unter einer erhöhten Krankheitsbelastung. Frauen in der niedrigsten Berufsgruppe sind fast fünfmal häufiger gesundheitlich beeinträchtigt als die Frauen in der höchsten Berufsgruppe. Hier findet sich die größte Ungleichheit. Vor dem Hintergrund, dass Frauen deutlich häufiger geringer qualifizierte, befristete und unsichere Beschäftigungsverhältnisse eingehen und die Sorge um den Arbeitsplatz ein hohes Krankheitsrisiko mit sich bringt, bewertet der VAMV dieses Ergebnis als alarmierend.

Zwischen den eingeschränkten Möglichkeiten einkommensarmer Menschen, Gesundheitsvorsorge und -pflege zu betreiben sowie sich gesund zu ernähren gibt es einen deutlichen Zusammenhang zur Höhe der Regelsätze. Der VAMV verweist auf die Ergebnisse der Universität Dortmund, dass die gesunde Ernährung von Kindern mit den Regelsätzen in ihrer derzeitigen Bemessung nicht möglich ist. Dass in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen wird, dass in Familien mit guten "sozialen und personalen" Ressourcen trotz Einkommensarmut weniger ausgeprägte gesundheitliche Benachteiligung zu finden ist, entbindet nicht von der Verpflichtung, allen einen menschenwürdigen Lebensstandard zu ermöglichen.

Dem VAMV fehlen in diesem Kapitel eine eingehende Analyse der schlechteren Gesundheitssituation von Frauen sowie eine Zusammenhangsanalyse von Geschlecht, Erwerbstätigkeit und Familienstatus. Insbesondere Alleinerziehende leiden zu höheren Anteilen unter stressbedingten Erkrankungen. Hier ist eine Nachbesserung notwendig.

VII. Wohnen

Die sozialräumliche Segregation in Städten nimmt zu, da insbesondere sozial privilegierte Familien mit Kindern aus Quartieren mit hoher Verkehrsbelastung, sozialen und wirtschaftlichen Problemen abwandern. Alleinerziehende leben zu hohen Anteilen in Städten und haben zudem keine Möglichkeiten, wenn sie im ALG-II-Bezug leben, in sozial besser gestellte Wohngegenden abzuwandern. Sie sind auf Erwerbstätigkeit, kurze Wege und Kinderbetreuungsangebote angewiesen. Die soziale Quartierssegregation in Städten wirkt sich zudem auf die Bildungssituation in den Schulen aus. Der VAMV sieht diesen Aspekt des Zusammenhangs von Wohnsituationen, Bildung und Freizeitmöglichkeiten für Kinder im vorliegenden Kapitel als zu wenig beleuchtet an. Eine Verbesserung der Situation ist dringend notwendig.

Teil D: Stärkung von Teilhabe und sozialer Integration - Maßnahmen der Bundesregierung

II. Maßnahmen gegen monetäre Armut


Der VAMV unterstützt die Regierung in ihren Bemühungen um die Etablierung von Mindestlöhnen, empfiehlt jedoch, von der Erfahrung der EU-Nachbarstaaten zu profitieren, und einen flächendeckenden Mindestlohn einzuführen. Hinzuverdienstmöglichkeiten in der Grundsicherung für Arbeitssuchende hält der VAMV für unwirksam, um eine Existenz sichernde Beschäftigung herbeizuführen.

Eine sozial gerechte Steuerpolitik sollte die Besserstellung bestimmter Familienformen durch das Ehegattensplitting abbauen. Der VAMV hält die Individualbesteuerung für das wirksamste Mittel. Zudem sollten Kinderbetreuungskosten in voller Höhe steuerlich berücksichtigt werden.

Die Schulung zu Themen wie "privater Altersvorsorge" bedeutet, dass der Rückzug der gesetzlichen Rentenversicherung bereits antizipiert ist. Schulungen zum Vermögensaufbau haben bei einkommensarmen Personen, die ihr Einkommen voll verkonsumieren müssen, keine Armut vermeidende Wirkung. Die Mindestsicherung wirkt durch die zu geringe Höhe der Regelsätze nicht armutsbekämpfend. Der VAMV befürwortet einen eigenständigen Kinderregelsatz und die raschere Berücksichtigung von Veränderungen in der Preisentwicklung. Diese Maßnahme sollte absolute Priorität haben. Der Ausbau der Schuldnerberatung wird befürwortet.

Der VAMV hält die vorgeschlagenen Lösungen nicht für ausreichend, um insbesondere die Armut in Einelternfamilien zu bekämpfen.

III. Bildung als Schlüssel zur Teilhabe

Das selektive dreigliedrige Schulsystem wird nicht in der Lage sein, Durchlässigkeit zu gewährleisten. Die Einführung von Studiengebühren hat die Zugangschancen zu Hochschulausbildung für Kinder aus einkommensschwachen Haushalten verschlechtert. Der Ausbau qualitativ hochwertiger Bildung für Kinder unter sechs Jahren wird durch den Ausbau der Tagespflege konterkariert. Der VAMV hält die flächendeckende Einführung von Ganztagsbildungsangeboten für unverzichtbar.

Die Begrifflichkeit des "Fördern und Fordern" ist bereits in der Arbeitsmarktpolitik verfehlt. In der Bildungspolitik sollte dringend von dieser Begrifflichkeit Abstand genommen werden. Kinder im Schulalter benötigen kein "Fordern", eine angemessene Förderung ist aufgrund ihrer eigenen Bildungswünsche vollständig ausreichend.

IV. Förderung der Erwerbstätigkeit

Der VAMV kann die Arbeitsmarktreformen nicht als erfolgreich bezeichnen. Insbesondere die verschärften Sanktionen durch das SGB-II-Fortentwicklungsgesetz sowie die Umkehr der Beweislast bei eheähnlichen Gemeinschaften ist für eine Politik des "Förderns" kontraproduktiv, da Ressourcen in Richtung einer verstärkten Kontrolle statt einer Unterstützung von Arbeitsuchenden gelenkt wird. Der VAMV weist den Generalverdacht des "Leistungsmissbrauchs" scharf zurück. Die effiziente Arbeitsvermittlung ist angesichts der Fallzahlen der Fallmanager/innen und angesichts der langen Verweildauer von Bezieher/innen der Leistungen nach dem SGB II nicht festzustellen. Der VAMV kann zudem keine Maßnahmen zur Verbesserung der Vermittlung und Qualifizierung von Alleinerziehenden erkennen.

V. Abgestimmte Maßnahmen für Familien und Kinder

Grundsätzlich drängt sich der Eindruck auf, dass die Verwendung des Begriffs "gezielter finanzieller Hilfen" eine freundliche Umschreibung für die Einsparung finanzieller Hilfen für Familien ist. Die Weiterentwicklung des Kinderzuschlags bleibt aufgrund der finanziellen Deckelung weit hinter den Erwartungen zurück. Insbesondere ist nach den Angaben der Bundesregierung nicht zu erwarten, dass Alleinerziehende von der Leistung in angemessenem Ausmaß profitieren werden. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Bemessung der Einkommensgrenze und die volle Anrechnung von Einkommen des Kindes auf den Kinderzuschlag. Es ist verfehlt anzunehmen, dass der Kinderzuschlag zur Finanzierung von Betreuungsangeboten genutzt werden soll (S. 201). Der Kinderzuschlag soll der Existenzsicherung des Kindes dienen, es ist völlig unangemessen anzunehmen, dass erhöhte Betreuungskosten in diesem Einkommenssegment von einer Sozialleistung bezahlt werden sollen. Der VAMV regt die Streichung dieses Satzes an.

Das Elterngeld ist nicht als Sozialleistung konzipiert. Aufgrund seiner Einkommensabhängigkeit bietet es Eltern ohne eigenes Erwerbseinkommen keine soziale Sicherung, sondern stellt im Vergleich zum Erziehungsgeld im Effekt eine Reduzierung der Leistung dar. Der Ausbau der Kinderbetreuung mit seinem Ausbauziel bis 2013 führt für die Familien, die derzeit Eltern werden, dazu, dass sie nach dem Auslaufen des Elterngeldes zu hohen Anteilen keine Kinderbetreuung finden werden. Diese Ungleichzeitigkeit der Leistungen ist unglücklich und wäre vermeidbar gewesen.

Der VAMV wendet sich entschieden gegen die verkürzte Herstellung eines Zusammenhanges von Einkommensarmut und Kindeswohlgefährdung bzw. der Notwendigkeit des Kinderschutzes. Diese Formulierung führt zu einer Stigmatisierung einkommensarmer Familien. Die Beseitigung monetärer Armut muss Priorität vor diesen Maßnahmen haben. Insbesondere zwischen der Teilnahme ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und einem Abbau der Gefährdung des Kindeswohls konnte bisher kein Zusammenhang festgestellt werden.

VI. Gesundes Leben - Basis für Teilhabe

Um ein gesundes Leben zu ermöglichen, müssen die monetären Ressourcen für einen gesunden Lebensstil gewährleistet sein. Der VAMV weist an dieser Stelle darauf hin, dass die Mangelernährung von Kindern im Sozialgeldbezug nicht länger hingenommen werden kann. Der VAMV fordert die Abschaffung aller Zuzahlungen für einkommensarme Personen. Die "Ernährungs- und Verbraucherbildung" hat keinen Effekt, wenn die finanziellen Mittel nicht ausreichen, um ein "ernährungsbewusster" Verbraucher zu sein. Im gesamten Kapitel finden sich keine Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit von Frauen und insbesondere von Alleinerziehenden, obwohl diese eine höhere Gesundheitsbelastung aufweisen.

VII. Wohnbedingungen weiter verbessert

Der VAMV unterstützt die Wohngelderhöhung. Das Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" findet ebenfalls die Zustimmung des VAMV.

Fazit

Die Bundesdelegiertenversammlung des VAMV hat sich am 25.05.2008 mit einem Initiativantrag gegen die Verharmlosung der Armutssituation von Alleinerziehenden im 3. Armuts- und Reichtumsbericht ausgesprochen. Mit diesem Antrag kritisiert der VAMV die unzureichende Datenlage, die Verschleierung der realen Armutssituationen durch den Wechsel der Datenquelle und den Mangel an innovativen Konzepten zur Armutsbekämpfung bei Alleinerziehenden. Der VAMV fordert Sofortmaßnahmen, um die dramatische Armut für Eltern und Kinder in Einelternfamilien zu bekämpfen und zu vermeiden.